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Mitzvah Day

Copyright Bild: Zentralrat der Juden in Deutschland/ Gregor Zielke

»Stopp mal! Wieso Mitzvah Day? Es gibt doch viel mehr Gebote! Und wieso nur an einem Tag?« In der Tat gibt es 613 Gebote, und diese gelten an 365 Tagen im Jahr. Die Mehrheit der Gebote umfasst die Pflicht zum sozialen Handeln und zur Nächstenliebe.


Der Mitzvah Day wurde vom Zentralrat der Juden im Jahr 2012 initiiert. Er soll Aufmerksamkeit schaffen für jüdische Werte, wie zum Beispiel »Zedaka« (Gerechtigkeit), »Tikkun Olam« (Verbesserung der Welt) und »Gemilut Chassadim« (Wohltätigkeit, Hilfe ohne Eigennutz), und zu besonderen Aktionen animieren, um vor Ort Beziehungen zwischen jüdischen und nicht jüdischen Einrichtungen zu schaffen. Der Mitzvah Day basiert auf jüdischen Werten, aber jeder kann mitmachen. Bei den Aktionen einzelner jüdischer Gemeinden sind auch christliche und muslimische Teilnehmer dabei. Die einzige Bedingung ist, dass die persönliche Zeit gespendet werden muss. Es geht ausdrücklich nicht um Geld, sodass wirklich jeder teilnehmen kann – unabhängig von der Größe der Brieftasche. Gleichzeitig ermöglicht der Mitzvah Day inter­religiöse Begegnungen durch gemeinsames soziales Engagement.


Soziale Gerechtigkeit bedeutet in den biblischen Texten, den Armen, Witwen und Waisen ihr Recht nicht zu nehmen: das Recht, in Würde zu leben. »Gott schafft den Waisen und Witwen Recht und liebt den Fremden, sodass er ihm Speise und Kleidung gibt. So sollt auch ihr den Fremden lieben, denn ihr wart selber Fremde in Ägypten«, heißt es im fünften Buch Mose im 18. Kapitel. Im täglichen Gebet wird Gott als König der Welt, heilig und gerecht gepriesen. Deshalb sollen auch die Menschen Gerechtigkeit schaffen. Im Zentrum des Judentums ist die Utopie verwurzelt, dass jede Woche einmal Unterdrückungsstrukturen auf den Kopf gestellt werden: Selbst der ärmste Bettler, die elendeste Dienstmagd werden zu Königen am Schabbat. Einmal in der Woche wird erfahrbar: So könnte das Leben sein, so schön wäre es gemeint.


Im dritten Buch Mose 19, 18 werden die Sozialvorschriften der hebräischen Bibel zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Abhängige darf man nicht ausbeuten, und der Lohn der Arbeit muss vor Sonnenuntergang bezahlt werden. Die fürs Leben notwendigen Dinge, in biblischer Zeit etwa Mantel und Mühlstein, dürfen nicht gepfändet werden, und selbst bei einer rechtmäßigen Pfändung muss der Hausfrieden – und damit die Würde – des Schuldners gewahrt bleiben: Das Haus darf nur in seiner Anwesenheit betreten werden.

Die radikalste Idee sozialer Gerechtigkeit findet sich im biblischen Schabbat- und Jobeljahr: Alle sieben Jahre ruht das Land, es gibt keine Ernte. Alle 50 Jahre gehen Äcker und Häuser an ihre ­ursprünglichen Besitzer zurück, Schulden werden erlassen und Gefangene befreit. Auch wenn dies nie so Realität gewesen sein mag, wird hier deutlich, dass soziale Gerechtigkeit nicht das Geben von Almosen bedeutet, sondern die rechtliche Verpflichtung, ein Leben in Würde für alle zu ermöglichen. Abhängigkeiten sollen vermieden werden, stattdessen soll zu Selbstständigkeit geholfen werden. Heute würden wir das Hilfe zur Selbsthilfe nennen.

Mit dem Mitzvah Day wurde vor ­einigen Jahren ein großer Schritt gemacht: Während bis dahin die Sozialarbeit und das ehrenamtliche Engagement der jüdischen Gemeinden vor allem nach innen gerichtet waren, richtet sich der Mitzvah Day ausdrücklich an die nicht jüdische Umgebung. Im Jahr 2015 fanden am Mitzvah Day bereits mehr als 120 Aktionen bundesweit statt. Der Tag stand aus gegebenem Anlass im Zeichen der Flüchtlingshilfe. Neben Aktionen für Senioren, zugunsten der Umwelt oder zusammen mit Menschen mit Behinderung gab es mehr als 30 Aktionen zugunsten oder zusammen mit Flüchtlingen mit zumeist musli­mischem Hintergrund. Einige der Aktivitäten haben sich seither verstetigt. So gehen Freiwillige der Berliner Synagogen Fraenkelufer und Oranienburger Straße monatlich in die Flüchtlingsunterkünfte. ­Daraus entstehen vielfache Begegnungen, die für alle Beteiligten bewegend sind. So fasste ein syrischer Neuberliner den Mitzvah Day aus seiner Sicht zusammen: »Nun bin ich seit drei Monaten in Berlin, habe einen ganzen Tag mit Juden verbracht und sitze in einer Synagoge, um zu essen – ich glaube, ich träume!«                     

Hannah Dannel

 

Aus unserem SympathieMagazin »Judentum verstehen«

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