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Das jüdische Jahr

 

Jüdische Feste muss man erleben. Sogar mit geschlossenen Augen würde ich noch herausfinden, welches Fest gefeiert wird. Ein Käsekuchen duftet im Ofen? Das kann nur Schawuot sein. Frisch gebackene Reibekuchen? Zu Chanukka steht man stundenlang in der Küche, um die Kartoffeln zu reiben und sie in viel Öl zu braten – zur Erinnerung an ein winziges Fläschchen Öl vor über 2.000 Jahren. Nach dem Sieg über die griechischen Besatzer im 2. Jh. v.d.Z. wurde der Tempel in Jerusalem wieder neu eingeweiht, und obwohl eigentlich zu wenig Öl übrig geblieben war, brannte das ewige Licht acht Tage lang. Und ­deshalb stehe ich jetzt hier, und die ganze Küche riecht nach Bratfett! Die meisten jüdischen Kochbücher beginnen mit einem Abschnitt über das Festjahr, und selbst Jom Kippur, der Versöhnungstag, an dem man 25 Stunden lang fastet, wird ausführlich besprochen: Schließlich ist es wichtig, was man vor und nach dem Fasten zu sich nimmt.

Alle Feste sind in der Geschichte des jüdischen Volkes verwurzelt, und gleichzeitig sind sie mit den Jahreszeiten verbunden. Mit den Hohen Feiertagen im Herbst beginnt das Jahr in einem ernsten Ton. Zu Rosch Haschana, dem Neujahrsfest, und Jom Kippur, dem Ver­söhnungstag, gehen oft auch nicht religiöse Juden in die Synagoge und feiern es zu Hause. Dem Anfang des Jahres geht ein Monat der in­neren Einkehr und der Rechenschaft voraus, eine Zeit, die mit dem Gottesdienst am Versöhnungstag ihren Höhepunkt erreicht. Am ­Versöhnungstag werden die Sünden der Menschen gegenüber Gott ver­geben, Verfehlungen gegenüber den Mitmenschen müssen vorher bereinigt werden, man zahlt Schulden zurück und bemüht sich, Konflikte mit Bekannten und Verwandten beizulegen.

Die drei Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot sind dagegen Freudenfeste. Sukkot, das Laubhüttenfest, das acht Tage dauert, wird sogar ausdrücklich als »Zeit unserer Freude« bezeichnet. Alle drei Feste stammen aus biblischer Zeit und feiern verschiedene Aspekte der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Pessach feiert den Auszug selbst. Das Wohnen in Laubhütten während Sukkot erinnert an die Wanderung durch die Wüste. Zu Schawuot wird der Empfang der Tora am Berg Sinai gefeiert, man lernt die Nacht hindurch gemeinsam die Tora. Die Kinder lieben besonders zwei weitere Feste: Purim erinnert daran, dass Königin Esther die Juden Persiens vor einem Pogrom rettete, und wird wie ein Karneval gefeiert, Chanukka feiert die Wiedereinweihung des Tempels im 2. Jh. v.d.Z. – die Griechen hatten den Tempel entweiht und wichtige jüdische Bräuche, wie zum Beispiel die Beschneidung, verboten, und die Makkabäer hatten den Aufstand angeführt. An jedem der acht Tage des Festes wird am Chanukkaleuchter ein weiteres Licht angezündet. Da Chanukka in den Dezember fällt, war die Antwort genervter jüdischer Eltern auf die Frage, warum »wir keine Weihnachtsgeschenke bekommen«, zu Chanukka ebenfalls Geschenke an die Kinder zu machen.

Die Feste zu erleben und ihre Hintergründe zu verstehen, ist die beste Einführung in jüdisches Denken und Leben, denn im Festzyklus findet sich die ganze Fülle der prägenden Themen, und wie mit ihnen umgegangen wird.

Pessach, das Fest der Freiheit, ist das wichtigste Fest des Jahres. Alle versuchen, wenigstens den ersten von acht Tagen mit der ganzen Familie zu verbringen. Während des Pessachfests darf kein Brot und kein Gesäuertes im Haus sein, stattdessen werden Mazzot gegessen: Die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten geschah so plötzlich, dass nur eilig gebackene Fladen als Proviant mitgenommen werden konnten. Am ersten und zweiten Abend, den Sederabenden, wird in großer Runde, mit Familie und Freunden, die Haggada gelesen, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Als ob wir selbst aus Ägypten herausgezogen wären, so sollen wir die Geschichte erzählen und verstehen. Die Bitterkeit der Sklaverei schmecken wir, indem wir Meerrettich essen, die Tränen der Unterdrückten teilen wir, indem wir einen Bissen in Salzwasser tauchen, an die Eile erinnern wir uns, indem wir die trockenen Fladen, das Brot des Elends, essen.

Aber wir erzählen nicht nur die ganz alte Geschichte, wir erinnern uns auch, wie die Generationen vor uns Pessach verstanden haben. Vom ersten Pessach, dem hastigen Mahl vor der Befreiung aus Ägypten, reiht sich eine Kette durch die Jahrtausende, und die Jahre und Jahrhunderte vermischen sich. Wie war es, Pessach heimlich zu feiern, zur Zeit der Inquisition in Spanien? Wir erinnern uns daran, wie häufig gerade zu Pessach Pogrome begannen, weil in den christlichen Kirchen wenige Tage zuvor, zu Ostern, gepredigt worden war, die Juden hätten Jesus umgebracht. Wir erinnern an den letzten Sederabend im Warschauer Ghetto, als es nicht einmal mehr bittere Kräuter zu essen gab und bestimmt keinen Wein, als schon lange alles Brot nur noch Brot des Elends war. Und die wenigen Überlebenden, die einige Tage vorher beschlossen hatten, sich nicht zu ergeben, sondern zu kämpfen, hatten schon lange ihre Religion vergessen und die Kindheitserinnerungen an den schön gedeckten Tisch. Wie kann man Pessach, Befreiung, feiern in solch einer Zeit?

Und dann den ersten Sederabend nach der Befreiung, noch elend und abgerissen – und was war das schon für eine Freiheit, wenn so viele sie nicht mehr erleben konnten, wenn man immer noch in Lagern saß und nicht wusste, wohin? Und vielleicht war es gerade dieses Fest, das doch wieder eine Verbindung mit dem Leben vor der Zerstörung herstellte, eine Zukunft bedeutete und etwas, was man an die Kinder weitergeben konnte.

Shira Berg

 

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